Leseprobe „Wolfsfährte“
(fünfter Niederbayern-Krimi)
Wachsam, die Nackenhaare aufgestellt, streifte er durch den nächtlichen Wald. Für heute war es genug, sein Hunger gestillt. Der Rest der Beute lag verscharrt an einer sicheren Stelle. Trotzdem hatte er auf seiner Wanderung eine neue Witterung aufgenommen. Schwach, ganz schwach war der Geruch in seine Nasenhöhle gedrungen, und doch war er unverkennbar da. Vertraut und fremd zugleich. Lautlos trabte er an Bäumen und Büschen vorbei, übersprang am Boden liegende Zweige und Äste, wie von einem unsichtbaren Seil gezogen immer der Spur hinterher. Manchmal war sie nur ein Hauch, jetzt, nachdem der Wind aufgefrischt hatte, wurde sie stärker. Aber es war keine gewöhnliche Beute. Kein Tier …
Abrupt blieb er stehen. Da war noch etwas anderes. Etwas Bedrohliches. Er gab ein dunkles Grollen von sich. Seine Geruchsrezeptoren liefen auf Hochtouren, die Muskeln spannten sich an, jederzeit bereit, zum Sprung anzusetzen. Es war da, eindeutig. Doch es war kein Artgenosse, kein möglicher Fang, auch kein Aas. Die Spur, die er zuerst verfolgt hatte, war jetzt nur noch ein flüchtiger Gedanke, überlagert von dem unbekannten Neuen. Seine schräg angesetzten Augen scannten die Umgebung ab. Nirgendwo konnte er eine Bewegung erkennen. Auch die stets aufrechten Ohren vermochten keinen Laut zu vernehmen. Und doch spürte er in jeder Faser seines Körpers die Gefahr. Eine Gefahr, die direkt aus der Tiefe des Waldes kam. Er duckte sich und wich einige Schritte zurück, bevor er eins wurde mit der Finsternis und im Unterholz verschwand.
*
Zufrieden las sich Christina Bogner noch einmal ihre Aufzeichnungen zu Karl Hofreiters abstrusen Vorwürfen, der eingesetzte Gutachter hätte nicht sauber und objektiv gearbeitet, durch. Sie hatte seine Einwände nicht nur zerlegt, sondern regelrecht filetiert und jeden einzelnen Punkt bis ins kleinste Detail widerlegt.
»Du kannst mir drohen und auflauern, so viel du willst. Du wirst es weder schaffen, mich kleinzukriegen noch das Windrad aufzuhalten!«
Ihr Mobiltelefon zeigte die Ankunft einer Textnachricht an. Sofort machte Christinas Herz einen gewaltigen Satz, und ihr wurde eines ganz klar: Sie musste vor allem diesen Menschen, dieses wunderbare Geschenk, unter allen Umständen beschützen. Niemand durfte von ihnen erfahren, so sehr es sie auch quälte, ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Ihre Liebe wäre die perfekte Steilvorlage für eine Hetzjagd. Vielleicht irgendwann, wenn sie ein dickeres Fell hatte und fester im Sattel saß, aber nicht jetzt. Hab Geduld, mein Herz, schickte sie in Gedanken hinterher, bevor sie den Chatverlauf löschte. Sie hasste sich selbst für diese Paranoia, aber die tief sitzende Angst, jemand könnte die Nachrichten lesen, obsiegte auch jetzt. Die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen und ein paar Stunden ungestörte Zweisamkeit verscheuchte das beklemmende Gefühl, und Christina beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Sie packte einige Unterlagen und den Laptop in ihre schwarze Umhängetasche und ging durch den Flur in Richtung Hinterausgang. Noch einmal meldete sich ihr Telefon. Eine unterdrückte Nummer rief an. Obwohl sie ein gewisses Unbehagen verspürte, meldete sie sich mit fester Stimme. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, nur tiefe Atemzüge waren zu hören.
»Hallo? Mit wem spreche ich?«, fragte Christina energisch.
Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, die laut durch das nächtliche Treppenhaus hallten. »Wer ist dran?«
Wieder waren nur Atemzüge zu vernehmen. Christina versuchte, sich die aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. »Karl, bist du das?«
Wenn Hofreiter meinte, sie mit anonymen Anrufen einschüchtern zu können, hatte er sich geschnitten. Unvermittelt erlosch das Licht und sie stand im Dunkeln. Ein Schrei entglitt ihr. Warum funktionierte der Bewegungsmelder nicht? War er manipuliert worden? Womöglich von jemandem, der sich irgendwo im Gebäude versteckt und nur darauf gewartet hatte, bis sie aus dem Büro kam? Die Alarmanlage hätte doch angeschlagen, wenn man sich zu so später Stunde unerlaubt Zutritt verschafft hätte. Oder war sie auch deaktiviert worden? Von einem Mitarbeiter? Saß ihr Feind womöglich im Rathaus? Christinas Gedanken überschlugen sich. Sie verharrte auf der Treppe, das Telefon immer noch am Ohr.
»Jetzt sagen Sie doch etwas!« Doch statt einer Antwort wurde aufgelegt.
Um sie herum nichts als Schwärze und vollkommene Stille. Ihr Herzschlag toste in ihren Ohren. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Christina hätte vor Angst am liebsten laut aufgeschrien. Mit zittrigen Händen schaltete sie die Taschenlampe des Telefons ein und folgte dem Lichtkegel. Immer weiter, nicht stehen bleiben, nicht umdrehen. Vorsichtig hangelte sie sich mit ihren hohen Schuhen die verbleibenden Stufen hinunter, vorbei an den historischen Bildern von Altenberg, die nur schemenhaft an der Wand zu erkennen waren. Weiter, immer weiter. Zweimal wäre sie beinahe gestolpert, bis sie endlich den Hinterausgang erreichte, wo sie sich mit voller Wucht gegen die Tür warf und in die Nacht hinausstürmte. Ihr Auto stand als einziges noch auf dem schwach beleuchteten Parkplatz. War dort am Stromverteilerkasten nicht ein Schatten zu erkennen? Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Der Schatten bewegte sich nicht. Sie musste vor ihm an ihrem Wagen sein, koste es, was es wolle. Christina zog ihre Absatzschuhe aus und rannte los. Kleine, spitze Steinchen bohrten sich in ihre Fußsohlen, aber sie ignorierte den Schmerz. Im Laufen entriegelte sie den Wagen. Dort angekommen, riss sie die Fahrertür auf, warf ihre Umhängetasche und ihre Schuhe auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Steuer. Ohne sich anzuschnallen, zog sie die Tür zu und gab Gas, sodass der Wagen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz schoss. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ein verlassenes Areal, von einem anderen Menschen weit und breit nichts zu sehen.
Die Tränen mühsam unterdrückend, fuhr sie Richtung Innenstadt, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Sie schaffte es kaum, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ihre Füße brannten und schmerzten, ihre Hände zitterten. Vor einer Kneipe hielt sie schließlich an. Hier waren, anders als im dunklen Rathaus, noch immer Nachtschwärmer unterwegs. Hier war sie sicher. Ihr Herz raste und sie hatte Mühe, die Gurtschnalle einrasten zu lassen. Jetzt bahnten sich die Tränen ungehindert ihren Weg. Würde das jemals aufhören? Reiß dich, verdammt noch mal, zusammen! Was war schon passiert außer einem anonymen Anrufer, der zu feige war, sich zu erkennen zu geben? Ein defekter Bewegungsmelder und ein eingebildeter Schatten. Sie musste aufpassen, dass sie nicht allmählich paranoid wurde. Christina atmete tief ein und aus. Im Senegal hatte sie täglich unter Lebensgefahr gearbeitet. Christina Löwenherz, wie die Kollegen sie genannt hatten, konnte doch nicht einfach verschwunden sein. Wo waren ihr Mut und ihre Kampfkraft? Die Angst, die Panik – das war doch nicht sie! Dass sie zu einem jämmerlichen
Nervenbündel mutierte, war doch genau das, was Karl Hofreiter wollte. Und diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun!
Allmählich beruhigte sie sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und drückte auf den Anlasser. Es wurde höchste Zeit, nach Hause zu fahren und diesen Tag hinter sich zu lassen. Morgen würde alles besser werden.
In diesem Augenblick sah sie ihn. Alles in ihr verkrampfte sich. Was hatte ausgerechnet er hier zu suchen?